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Einführungsvortrag

Was spuckt mein müdes Hirn aus, wenn ich mich 6 Monate später an den Einführungsvortag meines bedeutenden Studiumsleben erinnere?
Irgendwie war nicht der da, der eigentlich den Vortrag halten sollte. Okay, ist eine Normalität – gibt ja keinen Oscar, sondern nur ein paar frischeirige Studies. Dann finde ich noch zwei Sachen unter dem Teppich in meinem hirnschen Vorderstübchen. Prognosen über Arbeitsplätze für Sonderschullehrer im Jahre X plus Yte Teil aus der Lebenserwartung und Partnerschaftsleistungszeit. Aber bitte schön nur für Berlin. Wer wird schon diesem Pleitebär den Rücken kehren! Tja, und dann waren da noch ein Werbeblock für irgendwelche Studienfächer, die für mich so wie so nicht in Frage kommen. Absolut spannend. Genau das, was ich von einem Einführungsvortrag erwarte. Arbeitsmarktprophetie und die Trommel für bis dahin Unbekanntes und schon längst wieder Vergessenes rühren. Oder weiß ich doch noch, dass es um Arbeitslehre ging?

Schwarze Bretter

Schwarze BretterWie organisiert man eine Kleinstadt von über 35.000 Lernwütigen? Ganz klar, Baumarkt – Bretter besorgen, pro Wütigen 10 cm² berechnen. Dann die Dinger an die Wände der Uni schrauben. Der Rest ergibt sich von selbst. Heute wird zwar nicht mehr Martin Luter vorbeikommen und seine Thesen mit handgeschmiedeten Nägeln ranknallen. Nein, heute kommt ein wilder Querschnitt der Lernwütigen und dessen Wissen- und Bildungsquellen und bekleistern, beheften, bekleben und bepinnen die Bretter tonnenweise mit Papier. Schon das kann ein großes Geschick erfordern. Wenige Quadratzentimeter Ansatzfläche sind noch vorhanden, wie also das A3-Plakat noch attraktiv an das Brett basteln? Japanische Faltkunst müsste in Seminaren angeboten werden. Bretter könnten so dreidimensional genutzt werden.
Noch schwieriger wird es für den gehetzten Bretterleser. Statt Brett vor dem Kopf will er oder sie oder auch beide die Information fein sortiert und zugeordnet im Kopf haben. Das erinnert aber bei der Fülle der Bretter und der Fülle der Pro-Brett-Informationen an ein Spiel mit Zufälligkeiten. Student ärgere dich.
Richtig spannend wird es dann, wenn die von einer Unterunterdrauforganisation adoptierten Bretter von anderen fälschlich benutzt werden. Die Bretter erleben dann Revierkämpfe wie ehemals im Wald, wenn die Hirsche röhren. Plakatverdrängung pur.
Im Chaos der Bretter gibt es wenige Orientierungshilfen. Nur eine Faustregel: Streng organisierte und übersichtliche Bretter sind meist nur für eine verschwindend geringe Minderheit von Interesse. Wilde und informationsflutige Bretter sind für viele von hohem Interesse. Fragt sich nur, ob die Studierwütigenden das Studium der Bretter in ihren Stundenplan eingebaut haben. Ansonsten hilft nur ein flüchtiger Blick, auf den glückchen Moment der bedarfsdeckenden Rezeption hoffend und weitergehen.
Was sich seit dem Mittelalter geändert hat, ist nur eins. Die Bretter sind aus anderem Material und selten schwarz. Kork und solch Zeug. Das es da evtl. Alternativen gibt, hat sich noch nicht hingesetzt und durchgeschraubt. Wozu auch? Nichts ist fortschrittlicher als eine methodisch konservative Uni. Ein nächstes Projekt soll sein, 5.000 Bäume rings um die Uni zu pflanzen und sie zum Einritzen von Botschaften freizugeben. Der Vorteil: Kostenloser Zoom mit Langzeitgarantie. Streit gibt es nur bei der Zuteilung der Bäume. Zwecks gießen, Lebenserhaltung und so.
Februar 2002

4 Minuten Bus

Vor mir steht an der Bushaltestelle in Berlin eine blondierte, etwa 18jährige Frau. Durchschnittsjeans, unauffälliger Wintermantel, vermutlich eine gute Figur und stimmig zum hübschen Gesicht geschminkt. Die geschickte Blondierung der mittellangen Haare machen den Kopf zum visuellen Mittelpunkt. Sie raucht schnell noch eine, der Bus muss in einer Minute da sein.
Von rechts kommt eine ebenso junge Frau. Kastanienbraunes mittellanges Haar. Ein an der Wartehäuschenreklame gemessen sehr attraktives Gesicht. Auch sie hat ihre vermutlich schlanke Gestalt unter einem durchschnittlichen Winteroutfit verborgen. Ihre Augen zeigen etwas von Müdigkeit und fehlendem seelischen Nachtanken.
Beide lächeln sich noch viele Schritte entfernt voneinander an. Vorfreude auf ein Wiedersehen. Statt einer Begrüßungsformel treffen sich die Lippen frontal aber sanft. Frau Blond streicht Frau Kastanienbraun durch das Haar. “Das hast du aber gut hinbekommen! Womit machst du das?” Nachdem Frau Blond sich von den Ohrhörern und der jetzt störenden Musik befreit hat werden Tipps ausgetauscht. Fließend geht das Gespräch zu Gesichtscremes über. “Ich fange immer hier an und verteile es dann so.” Zwischendurch steckt sich Frau Kastanienbraun auch einen Weißstengel an.
Jetzt müsste eigentlich der Bus kommen. Frau Blond fragt Frau Kastanienbraun, wie es ihr denn so geht. “Wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen.” Frau Kastanienbraun zögert etwas. “Irgendwie nicht so gut. Es gibt kein großes Drama. Es ist nur so, dass ich viele kleine Enttäuschungen erlebe.” Frau Blond führt den Gedanken fort: “Ja, aus vielen kleinen Enttäuschungen wird manchmal mehr, als wäre es eine große Sache.”
Frau Kastanienbraun setzt zu einer kleinen Episode an: “Ich weiß gar nicht, ob ich dir das erzählen kann oder soll.”
Der Bus kommt. Wir steigen in der Mitte ein. Der Bus ist voll und ich erhalte einen Stehplatz direkt neben Blond und Kastanienbraun. Inzwischen erzählt Frau Kastanienbraun. “Am Wochenende wollte ich mit meinem Freund mal weggehen.” Frau Blond: “Zur Disko oder so?” “Nein, einfach so mal wieder zu Freunden oder irgend etwas machen. Aber er hatte keinen Bock. Hat da rumgesessen und wollte sich nicht bewegen. Wir waren so lange jetzt nicht weg. Ich war sauer. Und dann erzählt er mir noch, dass er nächste Woche mit seiner besten Freundin essen gehen will. Das ist echt krass. Ich muss mit ihm zu Hause sitzen und er will mit ´ner anderen ausgehen. Wenn ich mit einem Typen ausgehen würde, da würde der doch ausflippen!”
Frau Blond darauf: “Man der spinnt. So etwas von unsensibel. Das sind Männer! Ich habe gestern eine Frau in der U-Bahn gesehen. Die war total dun. Die hat sich kaum noch auf den Beinen gehalten, schwankte immer hin und her. Und da kümmert sich keiner drum! Ich habe einen von der Bahn angesprochen, aber der fühlte sich da wohl nicht zuständig. Ihrem Hund hat sie Bier aus der Büchse zum Trinken gegeben. Und der hat das auch noch gesoffen.”
“Ja, die ist echt noch schlimmer dran als ich!” erwidert darauf Frau Kastanienbraun. “Daran muss man auch mal denken, dann werden die eigenen Probleme ziemlich klein. Ich möchte nicht so tief sinken. Mir geht es dagegen echt gut.”
“Oder wenn dein Bein amputiert wird. Das ist doch echt die Härte.” legt Frau Blond noch eins gedanklich drauf. “Ich weiß nicht, ob ich da noch leben wollte.”
“Klar, das Leben kann auch damit weitergehen. Aber es ist schon sicher krass, damit klar zu kommen. Du ich muss jetzt aussteigen.”
Frau Kastanienbraun trifft mit ihren Lippen zielsicher die Lippen von Frau Blond, während der Bus in die Haltestelle hineinbremst. Türen auf, Menschen raus, Türen zu. Draußen steht die hübsche Frau Kastanienbraun und winkt Frau Blond, die ihre Ohrhörer wieder in Position bringt, noch einmal zu.

amund – 160er Bus

Ultrakurzgespräch

11:50 Uhr, zwei smarte Typen um die 30, mit schätzungsweise mittleren bis hohen Einkommen unterwegs auf einer belebten Straße in Berlin:
A: “Ja, ich fahre jetzt schon 4 Monate schwarz!”
B: “Du mußt halt immer wach sein!”
A: “nö, …” und hastig waren sie an mir vorüber, bestimmt zu einem Termin eilend, der ihnen wieder 5.000 Euro einbringt.

Erstkontakt

Mindest ein Zug zu früh. Ein neues Leben beginnt. Aber wie? Man, ich bin irgendwie aufgeregt, obwohl – mir steht doch kein Auftritt bevor. Die anderen treten auf. Einführungswoche in der Humboldt. Spezialität: Institut für Rehabilitationswissenschaften, Student im ersten Semester.
Wir wollen uns im alten Gebäude in der Garderobe gegenüber dem Audimax treffen. So jedenfalls der Plan für die ersten Tage. Nach dem Studium irgend eines Lageplans habe ich die Orientierung.
Heilige Hallen der Humboldt-Universität? So ein wenig Ehrfurcht ist schon dabei. Ich war hier schon mal als praktischer “Experte” bei “Hearings”, obwohl ich mich damals kein bisschen so gefühlt habe. Die Einladung klang so aber gut. Doch heute bin ich ein landsuchender Student unter vielen herumschwimmenden Neustudentinnen und Studenten.
Die Garderobe scheint noch tabu zu sein. Nur ein paar Sichauskenner verschwinden bepackt mit Frühstücksutensilien in der weiträumigen Garderobe, alle anderen warten im Vorraum. Die Fensterplätze, attraktiven Treppenstufen und spärlichen Raumnischen sind schnell besetzt. Ich habe den Rückenlehnplatz an einer Säule abbekommen. Einfach ist es für die, die im Duett oder in Kleingruppen zum Frühstück gekommen sind. Ein fesselndes Buch scheint bei meiner Nachbarin auch eine wohltuende Wirkung zu haben.
Gut ein Drittel ist aber so einsam wie ich. Fast jeder spielt die Show “Locker bleiben, es auf sich zukommen lassen”. Aber es ist ein Knistern zu spüren. Tastende Blicke. Was, mit denen willst du jetzt ein Teil deines Lebens verbringen? Aber vielleicht siehst du keinen von denen wieder. Wer sind die?
Zwei, drei spielen die Show nicht mit und zeigen deutlich die Unsicherheit. Laufen aufgeregt umher, wenn nicht mit den Füßen doch mit den Augen.
Die im Programm für die Erstiewoche festgelegte Zeit zum allerersten Frühstück ist überschritten. Zur Unsicherheit kommt Ungeduld. Beides verstärkt sich gegenseitig und wird doch bald wieder vergessen sein.
Ein paar auffällige Besonderheiten an Mensch sind doch dabei. Wie sich jeder inszeniert und was er damit sagen will? Dort die Frau, ganz in blau. Alter nicht definierbar, aber strotzend vor Selbstbewusstsein.
Wie werde ich auf die anderen wirken? Wahrscheinlich gar nicht. Ich bin unbedeutend. Na ja, doch nicht ganz. Habe ja schon einiges hinter mir, aber das trage ich nicht als Aufkleber auf der Jacke.
Jetzt kommt ein ganz lockerer langer Typ aus der Garderobe gestelzt. “Tja, eh, jetzt ist Frühstück!” Wau, das war eine konkrete Ansage. Mit betonter Normalität bewegt sich die herumhockende und stehende Masse geordnet in die Garderobe. Auf dem Sachenumschlagtresen sind Brötchen, Obst, Müsli, Marmelade, Wurst und Käse aufgebahrt. Tee und Kaffee werden in Tassen abgefüllt. Ich klemme mich in eine Ecke, mampfe meine selbstgewählte Zuteilung. Zunehmend mehr Einsame kommen ins Gespräch. Neben mir auf der Heizung hocken drei Mädchen. Thema des Gesprächs ist ein Vorlesungsverzeichnis. Roter Umschlag. Ich höre mit einem Ohr zu und grüble mit der anderen Gehirnhälfte, wie ich in das Thema mit einsteigen kann. Bis auf einen Verlorenen an der Säule scheinen fast alle Sprachliches über einen Kontakt zu schicken.
Ich hole mir noch ein Brötchen. Wer bezahlt die eigentlich? “Ist da noch etwas Käse?” “Ja, klar, hier!” Die erfahrenen Studenten hinter dem Tresen kennen sich gut und sind mit sich selbst beschäftigt.
Zurück in meine Ecke. Die drei Damen sind immer noch mit dem roten Heftchen beschäftigt. Es muss ein Verzeichnis der Lehrveranstaltungen sein, so’n Vorlesungsverzeichnis. “Ehm, wisst ihr schon genau, was ihr machen wollt?” “Na, …”
Ich habe zwar keine Ahnung, was hier abgeht, aber ich bin im Gespräch und mein Studentenleben hat begonnen!
Oktober 2001

Passionszeit. Einige Tage vor Karfreitag. Eier, wohin das Auge blickt. An den Wänden, Türen, Decken, Fenstern. Schön ordentlich ausgeschnitten, wahrscheinlich nach einer Schablone. Manche hängen auch vom Trockengesteck in einer Wohngruppe für Menschen mit schwerer geistiger Behinderung.

Erst gestern diskutierten ein Besucher und Mitarbeiter über die “Eierkultur” vor Ostern in der Einrichtung, die auch in der ganzen Kleinstadt anzutreffen ist. Einhellig waren wir der Meinung, dass die überwältigende Eiersymbolik nicht zur Passionszeit passt.

Auf der Autobahn unterwegs höre ich Passionsmusik. Im Gelände einer größeren diakonischen Einrichtung angekommen begrüßen mich Plastikeier. Sie hängen an einem winterlich kahlen Strauch.

Auf der Rückfahrt von Teltow nach Luckau fallen mir wieder die Eier in vielerlei Gestalt ein. Eine Kultur, mit der ich ein Problem habe. Da wird der Raum für den Hingucker gnadenlos mit Klischees bepflastert. Aber nicht nur das Auge bleibt unverschont. Einige Mitarbeiter gestalten den akustischen Raum in der Wohngruppe ebenso unempfindsam mit ihren musikalischen Vorlieben. Auf die Höhe getrieben wird dies mitunter in den Kleinbussen. Da dröhnt das Blech, wenn der Zivi vom Fahrdienst mit dem Fritzsender seinen Alltag aufhellt. Viele Bewohner mit schwerer geistiger Behinderung können nicht eindeutig sagen oder zeigen, ob sie das nervt. Es kostet auch Mühe und unvoreingenommenes Einfühlungsvermögen, ihren Geschmack zu erkunden. Den eigenen Geschmack den oftmals Wehrlosen einzuprägen ist wesentlich einfacher.

Über Geschmack lässt sich streiten. Dieser Antistreitspruch ist im Sinne der Hilfebedarfsempfänger eine Aufforderung zum Streit. Präsident George W. Busch kann sich einen kitschigen Ölschinken in sein Oval Office hängen und unser Deutschlandchef Schröder mit anspruchsvoller Kunst des 20. Jahrhunderts umgeben. Darüber will ich nicht streiten. Aber da, wo wir Entscheidungen treffen und massiv beeinflussen, sollte ich im Interesse der dort Wohnenden über Kultur und Geschmack streiten.

Ich erinnere mich an einen meiner Kunstlehrer. Er war der Meinung, dass der Kitsch erst mit der Industrialisierung und der Möglichkeit massenweiser Reproduzierbarkeit über uns gekommen ist. Das, was früher gemalt und gestaltet wurde, war bestenfalls naiv und sentimental. Jedoch war es kein Kitsch, weil sich der Gestaltende selbst in sein Werk hineingab. Heute gibt es sogar Kitsch-Kunst, eine amerikanisch dominierte Kunstrichtung der letzten Jahrzehnte, die Kitsch als Rohmaterial für ihre Kunst benutzt.

Warum machen wir das? Warum werden Wände, Fenster und Türen in der Wohngruppe mit so einem Kram zugepflastert? Gemütlichkeit erzeugen, dem Raum ein Gesicht geben, ihn schön machen und ihn in Besitz nehmen. Mit Kitsch.

Hier wird menschliches Schaffen zum unmittelbaren sentimentalen Selbstgenuss. Das Wort ‘Kitsch’, so vermutet man, kommt wahrscheinlich von ‘kitschen’, was ‘Schlamm zusammenscharren’ bedeutet. Ich höre schon ein Argument der sich schwer angegriffen fühlenden Mitarbeiter: Die Bewohner mögen doch das! Sie wollen das doch auch so und für sie tun wir das. Was ist daran falsch?

Es gibt hier kein Richtig und Falsch. Jedoch gibt es eine Dominanz der Helfenden und die Frage, wie reflektiert wir unseren Geschmack den Bewohnern überstülpen. In einer Kunstgruppe von Menschen mit geistiger Behinderung der Einrichtung findet eine Befreiung von Klischees der Wahrnehmung und der Wiedergabe statt. Diese Gruppe von Bewohnern widerlegt die Annahme, dass Kitsch und Kunst etwas mit dem Intellekt zu tun haben. Kunst ist der Mut zu Originalität, zu einer selbständigen Wahrnehmung, zu einem eigenen Ausdruck. Kitsch ist dagegen die Uniformität vermeintlicher gemeinsamer Bilder und Symbole.
Auch Geschmack kann hinterfragt werden und kann sich entwickeln. Wir brauchen keinen Bildersturm in den Wohngruppen. Wir brauchen eine Befreiung von der ästhetischen Flachheit, die die Tiefe des Lebens nicht erfasst und uns damit spannende und anregende Erfahrungswelten vorenthält.

Zuhause angekommen eile ich die Treppe rauf in meine Wohnung. Im Flur bleibt mein Blick an einer doch etwas kitschigen Malerei hängen. Eine Erinnerung an Freunde aus der Ukraine.

amund
Ostern 2001

Endlich Ruhe! Nun sehe ich auf den Tatort Schreibtisch hinunter. Genügend Abstand, um meine Memoiren zu schreiben. Frau Soundso wollte mich gealterte und entblätterte Schreibtischunterlage schon in den Papierkorb stopfen. Aber es ist ihr glücklicherweise auf Grund unvereinbarer Größenunterschiede zwischen mir und dem mickrigen Papierkorb nicht gelungen. Nun hockt sie da unten auf dem schmuddeligen Bürostuhl, und ich habe den Überblick vom Aktenschrank auf das Geschehen. Viele haben schon auf diesem Stuhl da unten gesessen. Drei habe ich ganz persönlich erlebt. Sie haben auf mir geschrieben, gekrakelt, ihre viel zu heißen Tassen abgestellt, sich bei mir abgestützt, mich angestöhnt und, sehr selten, angelacht.
Der Erste war Herr Istegal. Er hat mich als Geschenk bekommen. Nicht von einem Vertreter. Nein, von seiner Frau!
Ich wußte nie genau, wann er in meine Nähe kommt. Aber sicher war, daß Herr Istegal nicht viel länger als seine acht Pflichtstunden blieb. Er saß nicht so gerne am Schreibtisch, obwohl er mich liebte. Mir vertraute er nicht nur seine Aufgaben an, sondern auch durch geheime Symbole seinen Unmut über dieselben. Damit war aber auch der Ärger verraucht, und mitunter verrauchte damit auch die Aufgabe. Ich kann es bezeugen! Manches Blatt riss er von mir ab, und da war nicht einmal die Hälfte erledigt. Seine Devise hat er mir mal mit einem roten Stift aufgeschrieben: “Was ich vergesse ist unwichtig!” Sicher, er machte, was zu tun war. Seine freundlichen Gespräche waren jedoch nur ein Teil seines Gesichtes. War die Tür zu oder der Hörer aufgelegt, schälte Herr Istegal das unbedingt Notwendige aus den ihm angetragenen Aufgaben. Den Rest schmiss er elegant aus seinem Gedächtnis. Er hatte auch ein paar Hobbys, die er geschickt mit seiner Arbeit verband. Da war z.B. sein Angelverein. Manchen Entwurf der Tagesordnung für die nächste Sitzung hat er auf mir notiert. Dazu kamen dann die Telefongespräche, um alles richtig in den Griff zu bekommen. Dabei konnte Herr Istegal richtig engagiert werden. Es kam vor, dass er auf mich einschlug. Ob aus Freude oder Mißmut war nicht immer klar. Sonst war er bei Mitarbeitern, die nichts von ihm wollten, beliebt, weil freundlich und unaufdringlich. Bei den anderen, die mit ihm richtig zusammenarbeiten mussten, war die Kunst der steten Wiederholung und die Melodie des Seufzens weit verbreitet. Warum er schließlich ging, weiß ich gar nicht. Eines Tages holte er sein Fischbild aus dem Büro, riß noch das letzt Blatt mit den Sitzungsentwürfen für den Angelverein ab und verschwand.
Dann kam Frau Kurzundbündig. Pünktlich um sieben Uhr dreißig. Bei ihr lernte ich Tabellen noch und nöcher kennen. Alles was zu tun war, Notizen von Gesprächen und anderes wurden auf mir in Tabellen strukturiert. Und dann ging es los. Keine Krakeleien, keine Privatgespräche. Nur Sachlichkeit und Disziplin. Sie hat wohl effektiver gearbeitet als alle vor und nach ihr. Trotzdem ließ sie kaum eine Pause aus und ging meist genau so pünktlich wie sie kam. Alle Schreibtischunterlagen und die Mitarbeiter waren sicher von ihr beeindruckt, aber gelacht und geklatscht wurde bei ihr nicht. Auch ich hatte kein richtigen Spaß mit ihr. Das war zwar alles interessant, und ich lernte durch ihre Tabellen erst einmal verstehen, was diese Arbeit eigentlich bedeutet, aber es fehlte mir einfach das Persönliche. Kein Klatsch, kein Tratsch, kein ausschweifendes Gespräch über die wichtigen Nebensächlichkeiten des Lebens, wie zum Beispiel das Wetter. Merkwürdig war nur, dass sie immer ziemlich lange auf der Toilette war. Die Tageszeitung nahm sie heimlich mit.
Sauer wurde Frau Kurzundbündig, wenn zusätzliche Arbeiten erledigen werden sollten und der in der Tabelle gegliederte Arbeitsplan für den Tag durcheinander kam. Aber irgendwie schaffte sie es mit Verbissenheit und festem Druck ihres Stiftes fast immer und ging doch pünktlich aus dem Büro. Sie hasste Überstunden und auch das Gespräch darüber.
Herr Undsoweiter, der danach mein Leben kreuzte, war ein echter Langstreckenläufer. Er kam früh, selten sehr früh und blieb sehr lange. Die einsamen Nachtstunden verkürzten sich für mich. Allerdings hatte ich nicht viel von seiner Anwesenheit, denn ich konnte Herrn Undsoweiter und ein winziges Stück Himmel nur mit Mühe sehen. Immer war ich bedeckt mit Zetteln und völlig unerotischen Akten. Aber welch ein tolles Gefühl, wenn Herr Undsoweiter herumwühlte, um etwas zu finden. Das war Massage pur für mich. Er fühlte sich wiederum massiert, wenn Besucher seinen Arbeitseifer lobten und seine Überstunden bestaunten. Dann bekam ich auch einen schwungvollen Haken von seinem eleganten Schreiber ab. Allerdings muss ich sagen, dass er sich auch oft einfach gehen ließ und redete, und redete und redete. Auf Grund meiner Natur liebe ich eher das Schreiben auf meinem Rücken, so wie es Frau Kurzundbündig pflegte. Viel-Schaffen und Viel-Reden müssen wohl in den Köpfen der Menschen Geschwister sein. Und die Eltern sind Viel-Zeit. Da fällt mir ein Trick von meinem Vater ein: Die Schreibtischlampe mit einem Zeitschalter kombinieren und bis spät abends brennen lassen. Die Leute werden begeistert sein!
Was Herr Undsoweiter gut beherrschte, besser als Frau Kurzundbündig – er wirkte immer in Eile. Ein ganz Netter, der sich für alles kurz mal Zeit nimmt. Spitze war, wenn er seine artistische Kunst demonstrierte: Döner essen, dabei telefonieren und gleichzeitig Notizen machen. Allerdings bekam ich so immer mein Fett ab. Eklige Flecken auf meinem stolzen, schönen Papier!
Frau Soundso da unten am Schreibtisch benutzt übrigens gar keine Schreibtischunterlage. Ob das gut geht?

amund
Juni 1999

Liebe Frau Klatsch,
da habe ich doch neulich gehört, daß es in ihrem Haus keinen Tratsch geben soll. Als mir diese Ungeheuerlichkeit zu Ohren kam, sah ich mich umgehend veranlaßt, Ihnen, als meine Vertraute, einen Brief zu schreiben. Und schon bin ich dabei. Ich werde kein Blatt vor dem Mund nehmen. Wie sieht man damit auch aus?
Ich stehe dazu: Es gibt bei uns Tratsch. Sie wissen doch, wer ich bin, Frau Klatsch. Eigentlich hatte ich erwartet, daß Sie meine Bekanntschaft nicht verleugnen. Wir kennen uns doch schon seit Urzeiten! Wissen Sie noch, wie wir mit einem Christen aus dem alten Rom diskutiert haben? Es muß um 100 nach Christi Geburt gewesen sein. Er redete immer von dem kleinen Körperteil, die Zunge, die soviel Unheil anrichten kann und voll tödlichen Giftes ist. Oder war es früher, so um 50? Aber egal, zumindest scheinen Sie die Argumente vergessen zu haben, die wir damals für unsere Daseinsberechtigung ins Feld führten. Oder wagen Sie es inzwischen nicht, sie zu vertreten? Ich will Ihnen helfen und sie wieder in Erinnerung bringen. Wir gehören doch zusammen Frau Klatsch und können uns unser Dasein nicht verbieten lassen!
Sehen Sie, Frau Klatsch, heute bekommt man überall Informationen in Hülle und Fülle. Fernsehen, Radio und dieses neumodische Internet. Aber interessiert Sie wirklich, was da oft an schlimmen und gräßlichen Fakten mitgeteilt wird? Da ist es doch viel interessanter, etwas von den Leuten zu erfahren, mit denen man täglich zu tun hat, die man mag oder auch weniger mag. Das sind doch unsere echten Informationsbedürfnisse! Und überall ist doch ein Körnchen Wahrheit. Das lehrt mich jahrhundertelanges Studium. Wir beide, Frau Klatsch, geben doch den Menschen das, was sie eigentlich brauchen und lassen sie auch Anteil nehmen. Jeder kann seinen Gefühlen entsprechend etwas dazudichten. Was wäre aus der Kreativität geworden, wenn wir sie nicht so durch alle Schichten dieser oft so armen Gesell-schaft hindurch ständig schulen würden.
Leute, die sich brüsten nur die nackten Tatsachen zu berichten, sind nicht nur phantasielos, sondern verkennen, daß selbst sogenannte Tatsachen subjektiv gefärbt sind. Da erzählt mir der Nachbar, daß seine Ärztin das siebente Auto gekauft hat. Reine Tatsache. Seine Frau erzählt mir zwei Stunden später, daß die Ärztin sich einen Trabant gekauft hat. Frau Klatsch, es handelt sich um das gleiche Auto, aber jedesmal habe ich etwas anderes gedacht! Ich bin gegen solche Mogelpackungen, wo “objektiv” draufsteht und nicht drin ist. Ich stehe zum Individualismus und zur Subjektivität!
Gerade wir beide sind doch unabhängig und frei von jeder Zensur. Finden Sie nicht auch, daß selbst in sogenannten Demokratien gewisse zwanghafte Korrekturen erfolgen? Bei uns ist das nicht der Fall.
Nicht verschweigen möchte ich, daß durch uns Annäherung und menschliche Wärme möglich sind. Wie viele Menschen igeln sich ein. Durch Sie, Frau Klatsch, und meine Wenigkeit kommen wir diesen Menschen näher. Wir interessieren uns wenigstens für ihre Belange und reden über sie. Wir tun etwas gegen die Eisigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen. Wir durchbrechen die sachlich-kühle Distanziertheit. Wird Ihnen nicht auch immer warm ums Herz, wenn so richtig ausgiebig über jemanden geredet wird? Da braucht man sich nicht zu verstellen, da kann jeder ehrlich sein. Außerdem ist es ja heute immer noch höfliche Spielregel, bestimmte Grenzen einzuhalten. Bei uns schweigt das Gespräch, wenn die betreffende Person auftaucht. Das ist doch Pietät und gute Sitte, Frau Klatsch!
Wir kommen aber nicht nur der Person, über die wir sprechen, näher, sondern auch uns. Denken Sie mal, wie arm die Welt an Gesprächsthemen wäre, wenn es uns nicht gäbe! Wir bieten doch Solidargefühl und eine hohes Maß an gegenseitigem Verständnis. Auch wird Rücksicht auf den Kreis der Teilnehmer genommen. Es wird mundgerecht serviert. Eine hohe Schule verbaler Gaumenfreuden. Jeder kann mitmachen, niemand wird ausgeschlossen.
Und nicht zuletzt. Unser System ist schnell. Das will doch die heutige Zeit, schnelle Informationen. Wir bieten sie.
Ich hoffe Frau Klatsch, Sie können etwas verändern und melden sich einmal.
Mit freundlichen Gerüchten
Herr Tratsch

amund
November 1997

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