Passionszeit. Einige Tage vor Karfreitag. Eier, wohin das Auge blickt. An den Wänden, Türen, Decken, Fenstern. Schön ordentlich ausgeschnitten, wahrscheinlich nach einer Schablone. Manche hängen auch vom Trockengesteck in einer Wohngruppe für Menschen mit schwerer geistiger Behinderung.
Erst gestern diskutierten ein Besucher und Mitarbeiter über die “Eierkultur” vor Ostern in der Einrichtung, die auch in der ganzen Kleinstadt anzutreffen ist. Einhellig waren wir der Meinung, dass die überwältigende Eiersymbolik nicht zur Passionszeit passt.
Auf der Autobahn unterwegs höre ich Passionsmusik. Im Gelände einer größeren diakonischen Einrichtung angekommen begrüßen mich Plastikeier. Sie hängen an einem winterlich kahlen Strauch.
Auf der Rückfahrt von Teltow nach Luckau fallen mir wieder die Eier in vielerlei Gestalt ein. Eine Kultur, mit der ich ein Problem habe. Da wird der Raum für den Hingucker gnadenlos mit Klischees bepflastert. Aber nicht nur das Auge bleibt unverschont. Einige Mitarbeiter gestalten den akustischen Raum in der Wohngruppe ebenso unempfindsam mit ihren musikalischen Vorlieben. Auf die Höhe getrieben wird dies mitunter in den Kleinbussen. Da dröhnt das Blech, wenn der Zivi vom Fahrdienst mit dem Fritzsender seinen Alltag aufhellt. Viele Bewohner mit schwerer geistiger Behinderung können nicht eindeutig sagen oder zeigen, ob sie das nervt. Es kostet auch Mühe und unvoreingenommenes Einfühlungsvermögen, ihren Geschmack zu erkunden. Den eigenen Geschmack den oftmals Wehrlosen einzuprägen ist wesentlich einfacher.
Über Geschmack lässt sich streiten. Dieser Antistreitspruch ist im Sinne der Hilfebedarfsempfänger eine Aufforderung zum Streit. Präsident George W. Busch kann sich einen kitschigen Ölschinken in sein Oval Office hängen und unser Deutschlandchef Schröder mit anspruchsvoller Kunst des 20. Jahrhunderts umgeben. Darüber will ich nicht streiten. Aber da, wo wir Entscheidungen treffen und massiv beeinflussen, sollte ich im Interesse der dort Wohnenden über Kultur und Geschmack streiten.
Ich erinnere mich an einen meiner Kunstlehrer. Er war der Meinung, dass der Kitsch erst mit der Industrialisierung und der Möglichkeit massenweiser Reproduzierbarkeit über uns gekommen ist. Das, was früher gemalt und gestaltet wurde, war bestenfalls naiv und sentimental. Jedoch war es kein Kitsch, weil sich der Gestaltende selbst in sein Werk hineingab. Heute gibt es sogar Kitsch-Kunst, eine amerikanisch dominierte Kunstrichtung der letzten Jahrzehnte, die Kitsch als Rohmaterial für ihre Kunst benutzt.
Warum machen wir das? Warum werden Wände, Fenster und Türen in der Wohngruppe mit so einem Kram zugepflastert? Gemütlichkeit erzeugen, dem Raum ein Gesicht geben, ihn schön machen und ihn in Besitz nehmen. Mit Kitsch.
Hier wird menschliches Schaffen zum unmittelbaren sentimentalen Selbstgenuss. Das Wort ‘Kitsch’, so vermutet man, kommt wahrscheinlich von ‘kitschen’, was ‘Schlamm zusammenscharren’ bedeutet. Ich höre schon ein Argument der sich schwer angegriffen fühlenden Mitarbeiter: Die Bewohner mögen doch das! Sie wollen das doch auch so und für sie tun wir das. Was ist daran falsch?
Es gibt hier kein Richtig und Falsch. Jedoch gibt es eine Dominanz der Helfenden und die Frage, wie reflektiert wir unseren Geschmack den Bewohnern überstülpen. In einer Kunstgruppe von Menschen mit geistiger Behinderung der Einrichtung findet eine Befreiung von Klischees der Wahrnehmung und der Wiedergabe statt. Diese Gruppe von Bewohnern widerlegt die Annahme, dass Kitsch und Kunst etwas mit dem Intellekt zu tun haben. Kunst ist der Mut zu Originalität, zu einer selbständigen Wahrnehmung, zu einem eigenen Ausdruck. Kitsch ist dagegen die Uniformität vermeintlicher gemeinsamer Bilder und Symbole.
Auch Geschmack kann hinterfragt werden und kann sich entwickeln. Wir brauchen keinen Bildersturm in den Wohngruppen. Wir brauchen eine Befreiung von der ästhetischen Flachheit, die die Tiefe des Lebens nicht erfasst und uns damit spannende und anregende Erfahrungswelten vorenthält.
Zuhause angekommen eile ich die Treppe rauf in meine Wohnung. Im Flur bleibt mein Blick an einer doch etwas kitschigen Malerei hängen. Eine Erinnerung an Freunde aus der Ukraine.
amund
Ostern 2001