Erstkontakt
15.10.2001 by Amund
Mindest ein Zug zu früh. Ein neues Leben beginnt. Aber wie? Man, ich bin irgendwie aufgeregt, obwohl – mir steht doch kein Auftritt bevor. Die anderen treten auf. Einführungswoche in der Humboldt. Spezialität: Institut für Rehabilitationswissenschaften, Student im ersten Semester.
Wir wollen uns im alten Gebäude in der Garderobe gegenüber dem Audimax treffen. So jedenfalls der Plan für die ersten Tage. Nach dem Studium irgend eines Lageplans habe ich die Orientierung.
Heilige Hallen der Humboldt-Universität? So ein wenig Ehrfurcht ist schon dabei. Ich war hier schon mal als praktischer “Experte” bei “Hearings”, obwohl ich mich damals kein bisschen so gefühlt habe. Die Einladung klang so aber gut. Doch heute bin ich ein landsuchender Student unter vielen herumschwimmenden Neustudentinnen und Studenten.
Die Garderobe scheint noch tabu zu sein. Nur ein paar Sichauskenner verschwinden bepackt mit Frühstücksutensilien in der weiträumigen Garderobe, alle anderen warten im Vorraum. Die Fensterplätze, attraktiven Treppenstufen und spärlichen Raumnischen sind schnell besetzt. Ich habe den Rückenlehnplatz an einer Säule abbekommen. Einfach ist es für die, die im Duett oder in Kleingruppen zum Frühstück gekommen sind. Ein fesselndes Buch scheint bei meiner Nachbarin auch eine wohltuende Wirkung zu haben.
Gut ein Drittel ist aber so einsam wie ich. Fast jeder spielt die Show “Locker bleiben, es auf sich zukommen lassen”. Aber es ist ein Knistern zu spüren. Tastende Blicke. Was, mit denen willst du jetzt ein Teil deines Lebens verbringen? Aber vielleicht siehst du keinen von denen wieder. Wer sind die?
Zwei, drei spielen die Show nicht mit und zeigen deutlich die Unsicherheit. Laufen aufgeregt umher, wenn nicht mit den Füßen doch mit den Augen.
Die im Programm für die Erstiewoche festgelegte Zeit zum allerersten Frühstück ist überschritten. Zur Unsicherheit kommt Ungeduld. Beides verstärkt sich gegenseitig und wird doch bald wieder vergessen sein.
Ein paar auffällige Besonderheiten an Mensch sind doch dabei. Wie sich jeder inszeniert und was er damit sagen will? Dort die Frau, ganz in blau. Alter nicht definierbar, aber strotzend vor Selbstbewusstsein.
Wie werde ich auf die anderen wirken? Wahrscheinlich gar nicht. Ich bin unbedeutend. Na ja, doch nicht ganz. Habe ja schon einiges hinter mir, aber das trage ich nicht als Aufkleber auf der Jacke.
Jetzt kommt ein ganz lockerer langer Typ aus der Garderobe gestelzt. “Tja, eh, jetzt ist Frühstück!” Wau, das war eine konkrete Ansage. Mit betonter Normalität bewegt sich die herumhockende und stehende Masse geordnet in die Garderobe. Auf dem Sachenumschlagtresen sind Brötchen, Obst, Müsli, Marmelade, Wurst und Käse aufgebahrt. Tee und Kaffee werden in Tassen abgefüllt. Ich klemme mich in eine Ecke, mampfe meine selbstgewählte Zuteilung. Zunehmend mehr Einsame kommen ins Gespräch. Neben mir auf der Heizung hocken drei Mädchen. Thema des Gesprächs ist ein Vorlesungsverzeichnis. Roter Umschlag. Ich höre mit einem Ohr zu und grüble mit der anderen Gehirnhälfte, wie ich in das Thema mit einsteigen kann. Bis auf einen Verlorenen an der Säule scheinen fast alle Sprachliches über einen Kontakt zu schicken.
Ich hole mir noch ein Brötchen. Wer bezahlt die eigentlich? “Ist da noch etwas Käse?” “Ja, klar, hier!” Die erfahrenen Studenten hinter dem Tresen kennen sich gut und sind mit sich selbst beschäftigt.
Zurück in meine Ecke. Die drei Damen sind immer noch mit dem roten Heftchen beschäftigt. Es muss ein Verzeichnis der Lehrveranstaltungen sein, so’n Vorlesungsverzeichnis. “Ehm, wisst ihr schon genau, was ihr machen wollt?” “Na, …”
Ich habe zwar keine Ahnung, was hier abgeht, aber ich bin im Gespräch und mein Studentenleben hat begonnen!
Oktober 2001