Ein Brief von Herrn Tratsch an Frau Klatsch
02.11.1997 by Amund
Liebe Frau Klatsch,
da habe ich doch neulich gehört, daß es in ihrem Haus keinen Tratsch geben soll. Als mir diese Ungeheuerlichkeit zu Ohren kam, sah ich mich umgehend veranlaßt, Ihnen, als meine Vertraute, einen Brief zu schreiben. Und schon bin ich dabei. Ich werde kein Blatt vor dem Mund nehmen. Wie sieht man damit auch aus?
Ich stehe dazu: Es gibt bei uns Tratsch. Sie wissen doch, wer ich bin, Frau Klatsch. Eigentlich hatte ich erwartet, daß Sie meine Bekanntschaft nicht verleugnen. Wir kennen uns doch schon seit Urzeiten! Wissen Sie noch, wie wir mit einem Christen aus dem alten Rom diskutiert haben? Es muß um 100 nach Christi Geburt gewesen sein. Er redete immer von dem kleinen Körperteil, die Zunge, die soviel Unheil anrichten kann und voll tödlichen Giftes ist. Oder war es früher, so um 50? Aber egal, zumindest scheinen Sie die Argumente vergessen zu haben, die wir damals für unsere Daseinsberechtigung ins Feld führten. Oder wagen Sie es inzwischen nicht, sie zu vertreten? Ich will Ihnen helfen und sie wieder in Erinnerung bringen. Wir gehören doch zusammen Frau Klatsch und können uns unser Dasein nicht verbieten lassen!
Sehen Sie, Frau Klatsch, heute bekommt man überall Informationen in Hülle und Fülle. Fernsehen, Radio und dieses neumodische Internet. Aber interessiert Sie wirklich, was da oft an schlimmen und gräßlichen Fakten mitgeteilt wird? Da ist es doch viel interessanter, etwas von den Leuten zu erfahren, mit denen man täglich zu tun hat, die man mag oder auch weniger mag. Das sind doch unsere echten Informationsbedürfnisse! Und überall ist doch ein Körnchen Wahrheit. Das lehrt mich jahrhundertelanges Studium. Wir beide, Frau Klatsch, geben doch den Menschen das, was sie eigentlich brauchen und lassen sie auch Anteil nehmen. Jeder kann seinen Gefühlen entsprechend etwas dazudichten. Was wäre aus der Kreativität geworden, wenn wir sie nicht so durch alle Schichten dieser oft so armen Gesell-schaft hindurch ständig schulen würden.
Leute, die sich brüsten nur die nackten Tatsachen zu berichten, sind nicht nur phantasielos, sondern verkennen, daß selbst sogenannte Tatsachen subjektiv gefärbt sind. Da erzählt mir der Nachbar, daß seine Ärztin das siebente Auto gekauft hat. Reine Tatsache. Seine Frau erzählt mir zwei Stunden später, daß die Ärztin sich einen Trabant gekauft hat. Frau Klatsch, es handelt sich um das gleiche Auto, aber jedesmal habe ich etwas anderes gedacht! Ich bin gegen solche Mogelpackungen, wo “objektiv” draufsteht und nicht drin ist. Ich stehe zum Individualismus und zur Subjektivität!
Gerade wir beide sind doch unabhängig und frei von jeder Zensur. Finden Sie nicht auch, daß selbst in sogenannten Demokratien gewisse zwanghafte Korrekturen erfolgen? Bei uns ist das nicht der Fall.
Nicht verschweigen möchte ich, daß durch uns Annäherung und menschliche Wärme möglich sind. Wie viele Menschen igeln sich ein. Durch Sie, Frau Klatsch, und meine Wenigkeit kommen wir diesen Menschen näher. Wir interessieren uns wenigstens für ihre Belange und reden über sie. Wir tun etwas gegen die Eisigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen. Wir durchbrechen die sachlich-kühle Distanziertheit. Wird Ihnen nicht auch immer warm ums Herz, wenn so richtig ausgiebig über jemanden geredet wird? Da braucht man sich nicht zu verstellen, da kann jeder ehrlich sein. Außerdem ist es ja heute immer noch höfliche Spielregel, bestimmte Grenzen einzuhalten. Bei uns schweigt das Gespräch, wenn die betreffende Person auftaucht. Das ist doch Pietät und gute Sitte, Frau Klatsch!
Wir kommen aber nicht nur der Person, über die wir sprechen, näher, sondern auch uns. Denken Sie mal, wie arm die Welt an Gesprächsthemen wäre, wenn es uns nicht gäbe! Wir bieten doch Solidargefühl und eine hohes Maß an gegenseitigem Verständnis. Auch wird Rücksicht auf den Kreis der Teilnehmer genommen. Es wird mundgerecht serviert. Eine hohe Schule verbaler Gaumenfreuden. Jeder kann mitmachen, niemand wird ausgeschlossen.
Und nicht zuletzt. Unser System ist schnell. Das will doch die heutige Zeit, schnelle Informationen. Wir bieten sie.
Ich hoffe Frau Klatsch, Sie können etwas verändern und melden sich einmal.
Mit freundlichen Gerüchten
Herr Tratsch
amund
November 1997