4 Minuten Bus
14.02.2002 by Amund
Vor mir steht an der Bushaltestelle in Berlin eine blondierte, etwa 18jährige Frau. Durchschnittsjeans, unauffälliger Wintermantel, vermutlich eine gute Figur und stimmig zum hübschen Gesicht geschminkt. Die geschickte Blondierung der mittellangen Haare machen den Kopf zum visuellen Mittelpunkt. Sie raucht schnell noch eine, der Bus muss in einer Minute da sein.
Von rechts kommt eine ebenso junge Frau. Kastanienbraunes mittellanges Haar. Ein an der Wartehäuschenreklame gemessen sehr attraktives Gesicht. Auch sie hat ihre vermutlich schlanke Gestalt unter einem durchschnittlichen Winteroutfit verborgen. Ihre Augen zeigen etwas von Müdigkeit und fehlendem seelischen Nachtanken.
Beide lächeln sich noch viele Schritte entfernt voneinander an. Vorfreude auf ein Wiedersehen. Statt einer Begrüßungsformel treffen sich die Lippen frontal aber sanft. Frau Blond streicht Frau Kastanienbraun durch das Haar. “Das hast du aber gut hinbekommen! Womit machst du das?” Nachdem Frau Blond sich von den Ohrhörern und der jetzt störenden Musik befreit hat werden Tipps ausgetauscht. Fließend geht das Gespräch zu Gesichtscremes über. “Ich fange immer hier an und verteile es dann so.” Zwischendurch steckt sich Frau Kastanienbraun auch einen Weißstengel an.
Jetzt müsste eigentlich der Bus kommen. Frau Blond fragt Frau Kastanienbraun, wie es ihr denn so geht. “Wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen.” Frau Kastanienbraun zögert etwas. “Irgendwie nicht so gut. Es gibt kein großes Drama. Es ist nur so, dass ich viele kleine Enttäuschungen erlebe.” Frau Blond führt den Gedanken fort: “Ja, aus vielen kleinen Enttäuschungen wird manchmal mehr, als wäre es eine große Sache.”
Frau Kastanienbraun setzt zu einer kleinen Episode an: “Ich weiß gar nicht, ob ich dir das erzählen kann oder soll.”
Der Bus kommt. Wir steigen in der Mitte ein. Der Bus ist voll und ich erhalte einen Stehplatz direkt neben Blond und Kastanienbraun. Inzwischen erzählt Frau Kastanienbraun. “Am Wochenende wollte ich mit meinem Freund mal weggehen.” Frau Blond: “Zur Disko oder so?” “Nein, einfach so mal wieder zu Freunden oder irgend etwas machen. Aber er hatte keinen Bock. Hat da rumgesessen und wollte sich nicht bewegen. Wir waren so lange jetzt nicht weg. Ich war sauer. Und dann erzählt er mir noch, dass er nächste Woche mit seiner besten Freundin essen gehen will. Das ist echt krass. Ich muss mit ihm zu Hause sitzen und er will mit ´ner anderen ausgehen. Wenn ich mit einem Typen ausgehen würde, da würde der doch ausflippen!”
Frau Blond darauf: “Man der spinnt. So etwas von unsensibel. Das sind Männer! Ich habe gestern eine Frau in der U-Bahn gesehen. Die war total dun. Die hat sich kaum noch auf den Beinen gehalten, schwankte immer hin und her. Und da kümmert sich keiner drum! Ich habe einen von der Bahn angesprochen, aber der fühlte sich da wohl nicht zuständig. Ihrem Hund hat sie Bier aus der Büchse zum Trinken gegeben. Und der hat das auch noch gesoffen.”
“Ja, die ist echt noch schlimmer dran als ich!” erwidert darauf Frau Kastanienbraun. “Daran muss man auch mal denken, dann werden die eigenen Probleme ziemlich klein. Ich möchte nicht so tief sinken. Mir geht es dagegen echt gut.”
“Oder wenn dein Bein amputiert wird. Das ist doch echt die Härte.” legt Frau Blond noch eins gedanklich drauf. “Ich weiß nicht, ob ich da noch leben wollte.”
“Klar, das Leben kann auch damit weitergehen. Aber es ist schon sicher krass, damit klar zu kommen. Du ich muss jetzt aussteigen.”
Frau Kastanienbraun trifft mit ihren Lippen zielsicher die Lippen von Frau Blond, während der Bus in die Haltestelle hineinbremst. Türen auf, Menschen raus, Türen zu. Draußen steht die hübsche Frau Kastanienbraun und winkt Frau Blond, die ihre Ohrhörer wieder in Position bringt, noch einmal zu.
amund – 160er Bus